Nach vorne gebückt und in einen grauen Mantel gehüllt geht ein Mann durch die Einkaufsstraße der Kleinstadt. Es ist keiner von hier und auch er spürt die Fremde. Aus den Parfümeriegeschäften und Fotoläden blicken ihm nackte Frauen entgegen. In keinem Supermarkt findet er sein Lieblingsessen. Er versteht nicht worüber die Leute im Fernsehen lachen. Wenn er bei einem plötzlichen Notfall jemanden rufen wollte, er wüsste die Nummer des Notrufs nicht.
Es gibt viele Menschen die unter uns leben und denen Deutschland mehr oder weniger fremd ist. Diese Menschen werden alt und es wird dabei für sie nicht leichter. Aber wie kam es dazu?
Fremde Menschen kommen nach Deutschland
In der Nachkriegszeit strömten viele Flüchtlinge/Vertriebene aus Ostpreußen, Pommern, Schlesien und anderen Gebieten mit deutscher Bevölkerung in den Westen Deutschlands. Nicht immer waren sie willkommen, doch Eingliederung und Akzeptanz, Förderprogramme und gemeinsames Schicksal in schweren Zeiten sorgten für rasche Integration. Sie halfen mit beim Wiederaufbau und beim Ankurbeln der Wirtschaft.
Hier folgte dem Wiederaufbau das Wirtschaftswunder und es wurden dringend Arbeitskräfte gesucht. Bereits 1955 wurde von der Bundesregierung eine Anwerbevereinbarung für Arbeitskräfte mit Italien, 1960 auch mit Spanien und Griechenland, danach folgten Abkommen u. a. mit Portugal, Türkei und Jugoslawien.
Zunächst als „Saisonarbeiter“ gedacht sollten die ausländischen Arbeitskräfte bei einer Wirtschaftsflaute wieder in ihre Heimat zurückkehren. Die Mehrzahl der Menschen kam aus bäuerlich ländlichen Verhältnissen und sie verrichteten in Deutschland körperlich schwere Arbeit meist in der Industrie und im Baugewerbe.
Fremde Menschen bleiben in Deutschland
Die sogenannten „Gastarbeiter“ der ersten Generation, die in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts nach Deutschland geholt wurden, werden älter und viele von ihnen leben noch in Deutschland.
Sie kehren, anders als gedacht und anders als sie es selbst wünschten, immer seltener in ihre Heimat zurück, vor allem weil ihre Kinder in Deutschland leben und weil ihre Bindungen in die Herkunftsregion über die Jahre brüchig geworden sind. Trotz der Besuche jedes Jahr in der alten Heimat, die dies nicht verhindern konnten.
Es gibt eine Reihe von Gründen, auch im Alter in Deutschland zu bleiben. Bezeichnenderweise spricht man von einer Rückkehrillusion.
– Die Kinder und Enkelkinder wollen in Deutschland bleiben und von ihnen wird im Bedarfsfall auch Hilfe erhofft
– Die medizinische Versorgung scheint in Deutschland eher gewährleistet zu sein.
– Die politischen Verhältnisse zu Hause haben sich verändert.
– Verwandte und Bekannte sind verstorben oder man ist sich fremd geworden.
– Wenn auch im Heimatland die Lebenshaltungskosten gestiegen sind, können angesichts niedriger Renten auch finanzielle Gründe gegen die Rückkehr sprechen.
Der Verlust sozialrechtlicher Leistungsansprüche bei Rückkehr (z.B. Leistungen der Rehabilitation und der Pflegeversicherung) ist ein weiterer finanzieller Grund.
Neben den Arbeitsmigranten leben auch Aussiedler und Flüchtlinge in unserem Land. Sie alle werden älter und auch ihr Anteil wird im Vergleich zur jüngeren Generation deutlich steigen.
Lebenslage und Gesundheitszustand
Die Veränderungen in der Arbeitswelt führen bei den Migranten häufig zu einem Absinken des Einkommens und tragen dazu bei, dass das Auskommen im Alter häufig auf niedrigem Niveau liegt. Gründe dafür sind neben allgemeiner Arbeitslosigkeit, Rationalisierungsprozessen in der Arbeitswelt, Arbeit mit minderer Qualifikation wie zum Beispiel in der Baubranche sowie die Konkurrenz durch die Öffnung der Grenzen im Osten.
Neben der finanziellen Situation gibt es etliche Belastungen für die Gesundheit.
So wird durch körperlich belastende Arbeitsbedingungen einerseits das Krankheitsrisiko erhöht, andererseits besteht ein höheres Risiko für Unfälle. Mit den Folgen von Arbeitslosigkeit und Frühinvalidität, gleichzeitig ist man auf längere Beschäftigung angewiesen wegen fehlender Versicherungszeiten.
Viele Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten leiden unter der Ambivalenz zwischen Diskriminierung und Akzeptanz sowohl am Arbeitsplatz als auch im öffentlichen Leben. Unklare Lebensperspektiven werden dadurch verstärkt.
Insgesamt besteht ein höheres Erkrankungsrisiko. Häufiger sind Erkrankungen des Muskel- und Skelettsystems, der Verdauungs- und Atmungsorgane sowie psychosomatischen Erkrankungen.
Bezeichnenderweise schätzen sich Migranten häufig schon mit 45-55 Jahren als „alt“ ein.
Sprach- und Kommunikationsprobleme erschweren präventive Maßnahmen und werden daher nur selten genutzt. Ärzte tun sich schwer mit der Diagnosestellung, was sich ausdrückt in offenen Krankheitsbezeichnungen (Beispiel: „Schmerzsyndrom“) und der schnellen Verschreibung von Psychopharmaka.
Häufig stellt sich die Wohnsituation als unzureichend dar, da der Aufenthalt zunächst nur vorübergehend gedacht war, haben weder Arbeitgeber noch Arbeitnehmer in gut ausgestattete Wohnungen investiert.
In Mehrzahl sind dies Mietwohnung ohne Garten mit einer räumlichen Konzentration in Ballungsgebieten und großen Städten. Neben den Mehrpersonenhaushalten findet man auch viele allein lebende alte Menschen.
Pflege- und Unterstützungsbedarf im Alter
Trotz der zuvor geschilderten Problematik werden die Dienste der Altenhilfe bisher kaum von dieser Bevölkerungsgruppe genutzt.
Um Angebote der Prävention sowie der stationären und ambulanten Pflege annehmbar und attraktiv zu gestalten, müssen sie kultursensiblen Anforderungen gerecht werden. Dies bedeutet, sie müssen sich an individuellen Werten, kulturellen und religiösen Prägungen und Bedürfnissen ausrichten.
Hier werden die die Angehörigen der Pflegeberufe vor besondere Herausforderungen gestellt.
Bei der Kommunikation ist zu beachten, dass viele Migrantinnen und Migranten keine guten Bildungsvoraussetzungen haben. Hinzu kommt, dass insbesondere Ältere wenig Deutsch gelernt haben, da sie ja nur vorübergehend hier bleiben wollten. Verständigungsschwierigkeiten verhindern, dass Informationen zum Beispiel zu Therapie, Nebenwirkungen von Medikamenten, mögliche Hilfsmittel und Unterstützungsangebote den alten Menschen erreichen.
Menschen mit einer Demenz werden sich irgendwann nur noch an der Muttersprache orientieren, auch wenn sie die Zweitsprache beherrschen. Hier muss eine gemeinsame Kommunikationsebene gefunden werden, durch Dolmetscher, durch Mimik und Gestik, durch sprachliche und empathische Fähigkeiten der Mitarbeiter.
Oft entspricht das Verständnis von Krankheit nicht dem Anspruch einer aktivierenden Pflege. Alter wird mit Würde und Achtung assoziiert, man erwartet dann von den jüngeren Familienmitgliedern für die Alten aktiv zu sein.
Die Pflege durch Angehörige wird besonders gewünscht, dabei kann eine professionelle Pflege durchaus eingebunden sein. Hier gilt es Wasch- und Pflegerituale zu beachten.
Auch beim Essen und Trinken werden die Ernährungsgewohnheiten aus früheren Zeiten eine größere Rolle spielen, hinzu kommen religiöse Vorschriften.
Beim Thema Ausscheidung ist die Scham von großer Bedeutung und es wird zum Teil gleichgeschlechtliches Pflegepersonal erwartet.
Bei Krankheit und gesundheitlichen Einschränkungen ziehen sich viele ältere Migranten in die eigenen vier Wände zurück, das heißt die Begegnungen mit der Außenwelt werden weiter eingeschränkt.
Der Umgang mit Verlust und Tod ist geprägt durch die religiösen und kulturellen Traditionen.
Besonders problematisch und für Außenstehende zunächst oft nicht nachvollziehbar, sind die posttraumatischen Belastungsstörungen mit sehr unterschiedlichen Verläufen und Reaktionen.
Belastende Ereignisse haben, in unterschiedlicher Weise, vor allem Flüchtlinge, aber auch viele andere ältere Menschen erfahren und diese können durch sogenannte Trigger (Auslöser) wieder hervorgerufen werden. Auslöser können Eindrücke, Geräusche, Gerüche oder körperliche Empfindungen aber auch Jahrestage und atmosphärische Bedingungen (Stimmungen) sein, wenn sie in irgendeiner Weise mit dem belastenden Ereignis in Zusammenhang stehen.
Die posttraumatischen Belastungsstörungen können sich insbesondere beim Eintritt in ein Krankenhaus oder ein Altenpflegeheim zeigen, da solche Situationen einhergehen mit Kontrollverlust und Anpassungsschwierigkeiten.
An dieser Stelle wird verständlich welch hohen Anforderungen und Qualifikationen professionell Pflegende genügen müssen.
Grundlegend für das Gelingen einer kultursensiblen Pflege ist die Haltung von Altenpflegerinnen, Altenpflegern und allen anderen Mitarbeitern der Altenhilfe und des therapeutischen Teams zu den älteren Menschen unterschiedlicher nationaler und kultureller Herkunft.
Gestaltungsmöglichkeiten
Was kann getan werden, damit der fremde Mann im grauen Mantel sich weniger fremd fühlt und auch im Alter Achtung und Wertschätzung erfährt.
Welche Gestaltungsmöglichkeiten sind in unseren Dörfern und Städten denkbar?
Nun, der Mann im grauen Mantel geht durch die fremde Stadt und wundert sich als er von jungen Leuten angesprochen wird. Ist tatsächlich er gemeint?
Drei Schüler und Schülerinnen der Realschule haben im Unterricht das Thema Migration behandelt und stellen neugierige Fragen.
Sie wollen etwas zu seinem Herkunftsland wissen, zu der Kultur in der er aufgewachsen ist und wie er nach Deutschland gekommen ist.
Der gebückte Mann beginnt langsam zu erzählen und verspricht sich in das Erzählcafé der Schule einladen zu lassen. Die jungen Leute geben ihm dazu noch ein Faltblatt mit, es ist in seiner Heimatsprache geschrieben.
Im Weitergehen liest er an der Litfasssäule ein Plakat des Obst- und Gartenbauvereins mit Informationen zur interkulturellen Öffnung der Kleingärten, Schrebergärten und Nachbarschaftsgärten. Es soll Zuwanderern leicht gemacht werden Kleingärten zu bewirtschaften.
Die Kleingartenvereine sind motiviert sich interkulturell zu öffnen und haben längst die gärtnerischen Gemeinsamkeiten mit den Fremden erkannt.
Dadurch schaffen sie Räume und Anlässe der Begegnung zwischen deutschen und ausländischen Senioren.
Dem Mann in seinem grauen Mantel gefällt das und er macht sich auf den Weg nach Hause. Am Marktplatz stehen viele Menschen vor einer Fassade, die neu gestaltet wurde. Ein großer Jahreskalender ist dort angebracht, mit Farben und Symbolen die er teilweise kennt. Oben drüber steht „Interkultureller Kalender“ und es sind auf Tafeln viele Festtage erklärt.
Auf dem Marktplatz sind auch Plakate angebracht, die für den morgigen Tag eine Veranstaltung mit Ständen auf dem Marktplatz ankündigen. Es sollen Spezialitäten der Kulturen zum kosten angeboten werden.
Als er zuhause ist hängt er seinen grauen Mantel auf und merkt, dass er richtig müde ist aber ihn beschäftigen die vielen Eindrücke.
Da ist keine Zeit für den Fernseher mit Satellitenempfang aus seiner alten Heimat.
Für den Nachmittag erwartet er Besuch von zwei Herren. Der eine kommt aus seinem Heimatland und ist in einer Migrantenorganisation aktiv, der andere kommt im Auftrag der Stadt. Sie setzen sich bei Tee und Gebäck zusammen, unterhalten sich und schnell wird deutlich um was es geht. Eine Initiative der Stadt möchte ältere Menschen in ihrem Wohnumfeld aufsuchen, dabei arbeiten sie mit „Schlüsselpersonen“ aus dem Umfeld zusammen. Es geht darum Vertrauen aufzubauen, vermutliche Probleme herauszufinden und mögliche Kontakte zu koordinieren. Dabei soll das eigene Engagement gefördert und eigene Aktivitäten unterstützt werden. Dort wo familiäre und freundschaftliche Netzwerke bestehen, soll dies gestärkt werden, um eigenverantwortliches Handeln zu festigen.
Am nächsten Tag geht der Mann im grauen Mantel zu den kulinarischen Köstlichkeiten. Auf dem Marktplatz sind Tische und Bänke aufgebaut, dort trifft er auch die Schülerinnen wieder, die sich so sehr für seine Lebensgeschichte interessierten. Sie wollen sich an einem Projekt beteiligen, welches eine Stiftung ausgeschrieben hat. Das Projekt hat das Ziel mit Biografien von alten Menschen ihre heutige Situation zu thematisieren und damit Sympathie und Verständnis in die Gesellschaft zu transportieren. Die besten Projekte sollen mit einem Preis gewürdigt werden.
Michael Schneider, Diplom-Pflegepädagoge (FH) i. R.
(Literatur auf Nachfrage)